Leseprobe

Für alle Neugierigen, das erste Kapitel aus Teil 3

Ich hoffe, es gefällt euch!



1. Kapitel

10 Jahre später

Nele hielt sich an der Stange fest. Noch zwei Kurven und der Bus erreichte ihre Haltestelle. Sie drückte den Stoppknopf. Hoffentlich achtete dieser Idiot von Busfahrer diesmal darauf, dass sie aussteigen wollte. Zu oft fuhr er einfach vorbei.
Mit Schwung ging der Bus in die letzte Schleife. Sie kämpfte darum, die Balance zu halten. In der Mitte kreischten die Fünftklässler und ließen sich absichtlich hin und her schleudern. So was von nervig. Nele konnte sich nicht erinnern, jemals so dämlich gewesen zu sein. Die Kurve zog sich endlos. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um die Lässige zu mimen. Nur nicht hinfallen, sonst haben die Zicken ihren Spaß. Sie achtete darauf, entspannt in der Gegend herumzustehen, so als spiele es keine Rolle, dass sie mal wieder ohne Sitzplatz auskommen musste. Wenn nur der Busfahrer nicht vorbeifuhr. Sie hatte wenig Lust zusammen mit den Prinzessinnen auszusteigen. Da nahm sie lieber ein paar Meter mehr in Kauf.
Ihr tagtäglicher Kampf. Sinnlos und total bescheuert, wie sie sich eingestand, aber ihre ehemaligen besten Freundinnen legten es darauf an, sie zu ärgern.
Jede der drei Prinzessinnen, wie sie genannt wurden, belegte einen Platz für sich und einen für ihre Tasche. Sie saßen immer, als wären eben diese Plätze für sie und ihre Taschen reserviert.
Den Fehler, zu fragen, ob sie nicht sitzen könne, würde Nele kein zweites Mal begehen.
Der Bus hielt, ächzend öffnete sich die Tür und der frische Wind schlug ihr entgegen. Ein Hauch von Freiheit. Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Für heute hatte der Schulstress ein Ende.
»Warte, Nele!« In letzter Sekunde quetschte sich noch ein Junge aus dem Bus – Malte. Sie verdrehte die Augen. Er war eindeutig eine Nummer zu groß für sie, auch wenn er in die gleiche Stufe ging. Er war neunzehn, damit zwei Jahre älter als sie, und sah blendend aus. Mit seinen teuren Klamotten, dem angesagten Schnitt seiner blonden Haare und einem umwerfenden Lächeln war er ein Hauptgewinn. Doch die Oberzicke hatte ein Auge auf ihn geworfen, also hieß es: Finger weg! Jeder wusste das, nur bis zu Malte war es wohl noch nicht durchgedrungen.
Sie marschierte los, ohne ihn zu beachten. Besser so, bevor sich Klara irgendwelche Gemeinheiten ausdachte, nur weil ihr Traumprinz mit Nele ausstieg.
Sie hasste die Schule. Nicht, dass sie mit dem Stoff nicht klarkam. Lernen bereitete ihr keine Mühe. Ihr Deutschlehrer hatte dem Kurs vor ein paar Tagen einen Zeitungsausschnitt vorgelegt, in dem von den herausragenden Absolventen des aktuellen Jahrgangs berichtet wurde. Hier würde im nächsten Jahr Neles Name stehen, tönte er vor dem voll besetzten Leistungskurs. Super, solche Lobeshymnen machten es auch viel einfacher Freunde zu finden.
Sie legte einen Schritt zu. Ihre Mutter wurde immer nervös, wenn die Zicken schon an ihrem Haus vorbeigegangen waren und sie noch lange auf sich warten ließ.
»Jetzt renn doch nicht so, Nele!«, rief Malte.
»Was willst du?«, blaffte sie ihn an, ohne sich umzudrehen.
»Nur mal mit dir reden. Du tust so, als hätte ich die Pest.«
»Hast du ja vielleicht auch.«
Er rannte ein Stück, um zu ihr aufzuschließen.
»Jetzt, am Samstag, steigt bei Jan ’ne Feier, er hat gestern seinen Führerschein bestanden. Gehst du mit mir hin?«
Nele blieb stehen, ungläubig sah sie ihn an.
»Was soll ich denn da?« Genervt schüttelte sie den Kopf. Malte fehlte scheinbar jedes Gespür für die Realität. Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die man gern auf einer Party sah. Sie war eine Außenseiterin. Ohne ihn weiter zu beachten, setzte sie ihren Weg fort.
»Ich weiß nicht, was du hast? Nur weil die Prinzessinnen dich mobben, musst du dich doch nicht so verstecken. Du merkst nicht mal, dass die meisten dich mögen, oder?«
Nele blieb erneut stehen. »Mag sein«, fauchte sie ihn an. »Aber zeigen werden sie es nicht! Sobald sie ihr Gift verspritzen, ist es vorbei mit der Sympathie. Keiner legt sich mit den Oberzicken an.«
»Ich schon, wenn du mich lässt!« Der Wind nestelte an seinem sorgfältig gestylten, fransigen Pony. Nele trieb er die dicken schwarzen Strähnen ins Gesicht. Mit einer Hand in den Haaren hielt sie sich die Sicht frei.
Er meinte es ernst und wollte sich für sie zur Zielscheibe machen. Sollte sie tatsächlich noch einmal rebellieren? Jetzt, am Ende ihrer Schulzeit? Sein Interesse schmeichelte ihr, doch sie schüttelte energisch den Kopf.
»Mann, ich habe echt was Besseres zu tun, als mich mit denen anzulegen. Ich brauche den Stress nicht auch noch am Wochenende.«
»Ich hole dich Samstag ab, um sieben. Mein Vater leiht mir seinen Lamborghini.«
Sie atmete tief ein. Er köderte sie tatsächlich mit einem sündhaft teuren Sportwagen. Und sie kam ins Grübeln. Allein die Vorstellung! Sie sah die Prinzessinnen beinahe vor sich, wie ihnen die Augen aus dem Kopf fielen. Klara war immer bereit, ihr vollständiges Register an Gemeinheiten zu ziehen. Keine Frage, Nele würde es später bereuen.
»Du meinst es wirklich ernst?«, hakte sie nach.
Er nickte. »Genauso ernst, wie ich letzte Woche das Bioreferat mit dir machen wollte.«
Sie hatte ihn damit recht heftig abblitzen lassen. Erneut holte sie geräuschvoll Luft. »Gut, dann am Samstag«, sagte sie mutig, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Später würde es ihr leidtun, das war so sicher wie das Amen in der Kirche, aber im Moment fühlte es sich gut an. Viel zu gut.
Malte grinste. Zufrieden ging er neben ihr her. Ab und an warf er ihr einen verstohlenen Blick zu und sie lächelte zurück.

Zuhause wurde sie nicht von ihrer Mutter begrüßt, sondern von ihrer fünfzehnjährigen Cousine.
»Na, du feige Kuh, wieder mal keinen Mumm für die richtige Haltestelle?«, stichelte Lea, die kurz davor stand, zur Prinzessin ihres Jahrganges aufzusteigen. Gertenschlank, mit auffällig rotem Lippenstift versehen, stellte sie sich in Positur, um über ihrer großen Cousine die tagtägliche Portion Häme auszuschütten.
»Zick nicht rum, Lea!«, platzte es aus Nele heraus, noch ehe sich Lea richtig ins Zeug legen konnte. »Du musst mir helfen! Wir gehen shoppen, ich habe ein Date.«
»Echt?« Ungläubig starrte die einen Kopf kleinere Hellblonde zu ihr auf.
»Echt! Ich brauche was zum Anziehen, für eine Samstagabendparty.«
»Nein!«, meinte Lea und ihr schnippischer Gesichtsausdruck zeigte deutlich, sie glaubte, es handelte sich um einen Scherz.
»Ich meine es ernst. Also, hast du Zeit?«
»Wo bist du eingeladen?«
»Zu Jan Feldkamps Führerscheinparty.«
»Der hat dich eingeladen?« Allein Leas Tonlage ließ erkennen, wie unglaubwürdig sie es fand, doch sie beherrschte auch den perfekten Du-willst-mich-verarschen-Blick.
»Ein anderer.«
Lea machte den Mund auf und zu, wie ein Fisch, der auf dem Trockenen saß.
Offensichtlich glaubte sie ihr jetzt.
»Tante Kati ist beim Friseur, wir können sofort los.« Voller Tatendrang eilte sie ins Bad, um letzte Hand an ihre Kriegsbemalung zu legen. »Wer ist es?«, rief sie.
»Überraschung, du siehst es am Samstag.« Mehr würde sie bestimmt nicht verraten, sonst wüsste es morgen schon die ganze Schule.

Auch wenn Lea nervte, so war sie doch eines: stilsicher. Sie schleifte Nele in drei Läden und stellte rasch fünf erstklassige Outfits zusammen.
Anschließend quälte Lea sie durch vier Schuhläden. Mit drei Kartons kamen sie aus dem letzten heraus. Zwei Stunden später hatte sie auch einen längst überfälligen Besuch beim Friseur hinter sich. Ein Tag wie bei ›Shopping Queen‹, nur dass die Kandidatinnen das Geld des Senders ausgaben und nicht die Kreditkarte ihrer Mutter plünderten.
Schwer beladen mit Tragetaschen an jedem Arm trafen sie zu Hause ein. In dem gutbürgerlichen Vorstadthaus, mit der gepflasterten Auffahrt, brannte schon Licht.
»Bleibt zu hoffen, dass der, der dich eingeladen hat, dich auch erkennt«, stichelte Lea. Nach mehreren Stunden der Waffenruhe war es wohl Zeit, in das alte Rollenspiel zurückzufallen.
Nele schenkte sich eine Antwort und sperrte auf. Lea stolzierte direkt ins Wohnzimmer.
»Hallo, Tante Kati«, trällerte Lea, »diesmal hat Nele deine Kreditkarte geplündert, nicht ich, stell dir vor, alles in allem, mit Friseur, hat sie fast sechshundert ausgegeben.«
»Bitte?«, stöhnte ihre Adoptivmutter, Kati, eine stabile Mittvierzigerin.
»Tut mir leid, Mama, wir waren shoppen«, sagte Nele zerknirscht. Sie stand noch mit den Tüten in der Hand im Flur, während Lea bereits die Treppe hinaufging, um den befürchteten Sturm in ihrem Zimmer auszusitzen.
»Sieht gut aus, die Frisur, viel leichter«, meinte Kati nach einem kritischen Blick.
»Ja? Ich fühle mich auch wohl damit.« Ihre schweren, langen Haare waren nun gut zwanzig Zentimeter kürzer, überdeckten aber immer noch ihre Schulterblätter. Lea hatte sie zu einem modischen Pony überredet, die stufigen Fransen fielen locker in ihr Gesicht.
»Ich hätte weniger kaufen sollen, aber die Sachen sind wirklich chic.«
»Schon gut! Seit Monaten sage ich, dass du was Neues brauchst.« Kati versuchte zu lächeln, doch Nele sah, wie schwer es ihr fiel. »Zeig her! Was hast du gefunden?«
Die sechshundert Euro rissen ein Loch in die Haushaltskasse. Nele wusste, ihre Adoptivmutter würde nichts sagen. Im Umgang mit ihr trug sie Samthandschuhe. Auf keinen Fall wollte sie das labile Kind verschrecken.
Vor zehn Jahren war sie als Pflegekind in die Familie gekommen. Horst, Katis Mann, sah in ihr die große Herausforderung. Ein etwa siebenjähriges Mädchen, das keine Erinnerung besaß, das nicht ein einziges Wort sprach. Ein weiblicher Kaspar Hauser aus dem Nichts aufgetaucht. Als Lehrer für Sonderpädagogik und Sozialwissenschaften fühlte er sich der Aufgabe gewachsen.
Vielleicht stellte er es sich einfacher vor, aber Neles Erziehung brachte ihn schnell an seine Grenzen. Woche für Woche begleitete Horst sie zu Therapiesitzungen. Nele lernte schließlich, zu sprechen. In den ersten Jahren ließ er sie siebenmal stationär in die Kinderpsychiatrie einweisen. Die Therapeuten versuchten, ihren komplexen Fantasievorstellungen, auf den Grund zu gehen. Doch ohne Erfolg.
Bis heute wusste niemand, woher sie kam. Keiner schien sie zu vermissen. Irgendwann hörte Nele auf, über jene fremde Welt ihrer Erinnerung zu reden. Die Therapiesitzungen endeten und ein scheinbar normales Leben begann.
Sie überflügelte die Erwartungen, übersprang Klassen, bis sie die Gleichaltrigen einholte, und glänzte stets als Klassenbeste.
Nach außen schien alles perfekt. Sie adoptierten Nele, aber wirklich nahe standen sie sich nicht. Dabei benahm sie sich nicht wild oder ungehorsam. Es stellte sich einfach keine liebevolle Eltern-Kind-Beziehung ein. Durch Neles Distanz, ihre Kälte, blieben sie Fremde. Sie verabscheute jede Berührung, wahrte lediglich die Form, nannte sie Mama und Papa, aber das war es schon. Sie suchte ihre Nähe nicht, hatte es nie und würde sie auch in Zukunft meiden. Das nagte an Kati. Horst sah das anders. Er war nicht der Typ, der Fehler eingestand.
Während sich Horst für das Erreichte auf die Schulter klopfte, quälten Kati Selbstzweifel. Sie glaubte, versagt zu haben. Vielleicht hatten beide irgendwie recht.
Lea, Katis Nichte, war dagegen einfacher gestrickt. Sie bewahrte sich ihre Unbeschwertheit, obwohl ihre Eltern vor vier Jahren bei einem tragischen Autounfall starben. Lea in ihre Familie aufzunehmen, hatte ihre Probleme nicht vereinfacht.

Nele drehte sich vor dem deckenhohen Garderobenspiegel im Hausflur. »Für eine Führerscheinfeier könnte das hier doch genau das Richtige sein oder?«, fragte sie vorsichtig.
»Daher weht also der Wind, eine Feier?«, rief Kati und trat zu ihr in den Flur.
Sie glaubte, einen Funken Hoffnung in Katis Augen zu entdecken, dass aus ihr doch noch ein ganz normaler Teenager würde.
»Du hast die Figur dafür, es steht dir!«, lobte Kati.
Das war keine Übertreibung, verriet ihr ein Blick in den Spiegel. Die superenge schwarze Jeans betonte ihre langen Beine und der braune Pulli hob ihre Figur genau an den richtigen Stellen hervor.
»Wir haben auch Stiefeletten gekauft. Das passt gut zusammen.« Schnell eilte sie ins Wohnzimmer und schlüpfte hinein.
Als sie in den Flur zurückkam, fiel ein Schatten durch das milchige Glas der Eingangstür. Draußen suchte jemand die Klingel. Kati kam ihm zuvor und öffnete. Um ihr Gegenüber anzuschauen, legte sie den Kopf in den Nacken. Der Mann war ein Riese. Zwei Meter maß er bestimmt.
Selbst aus der Entfernung sah Nele seine goldbraunen Augen umgeben von bronzefarbenen, völlig verstrubbelten Haaren. Dunkle Bartstoppeln wischten den sympathischen Eindruck, den der hellwache Blick des Mannes schaffte, noch im selben Moment fort. Er trug sonderbare, glänzende Kleidung. Eine dünne graue Regenjacke, die bis zum Hals geschlossen war. Seine breiten Schultern versperrten den Eingang.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Kati und ihre Stimme verriet, wie sehr sie der Mann verunsicherte, der raumfüllend vor ihr aufragte.
Der ungebetene Gast gab keine Antwort. Er übersah die Frau vor ihm und suchte Nele. Sie konnte nur steif zurückstarren.
Jetzt sagte der Fremde etwas. Verwirrt von der seltsamen Sprache, folgte Kati seinem Blick und runzelte fragend die Stirn. Die Laute klangen so fremdländisch, dass man nicht einmal ansatzweise zuordnen konnte, welchem Kulturkreis er entstammte.
Nele schon! Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Panisch, ohne nachzudenken, machte sie auf dem Fuß kehrt und rannte die Treppe hinauf. Die ungewohnte Höhe der Absätze ließ sie straucheln, doch sie rappelte sich schnell wieder auf und setzte ihre Flucht fort.
Als der Große ihr nachsetzen wollte, verstellte ihm Kati den Weg.
»Was wollen Sie von ihr?«, schallte es zu Nele hoch. Katis Tonfall war unmissverständlich, sie würde ihn nicht freiwillig vorbeilassen.
Der Mann rief: »Aila!« Und löste damit ein Gefühl aus, als stürzte sie in einen Bottich mit Eiswasser. Sie rannte schneller. Oben in ihrem Zimmer dachte sie fieberhaft nach, den Rücken fest gegen die Tür gepresst. Ihr Herz raste.
Er war da!
Ihre Hände wurden feucht. Ihr Magen rebellierte.
Alles war wahr!
Sie schloss die Augen, denn das Zimmer drehte sich. Was nun? All ihre Albträume aus Kindertagen waren Realität. Sie hatte sich nichts eingebildet. All die Besuche beim Psychiater – für die Katz.
Kurzentschlossen kletterte sie aus dem Fenster, schlich über das Garagendach und hangelte sich am Rosengitter hinunter.
Sie brauchte jemanden zum Reden, auch wenn ihr Sarah kein Wort glauben würde. Zu Hause bleiben konnte sie auf keinen Fall. Fünf nach sieben, den Bus würde sie nicht mehr erwischen. Sarah wohnte nur drei Haltestellen entfernt, nicht zu weit, um zu laufen.
Halb acht zeigte ihr Handy, als sie vor dem Bungalow ihrer besten Freundin eintraf. Schon ganz schön spät, um einfach so vorbeizuschauen. Sarah hatte auf keine ihrer Nachrichten reagiert. Sie gehörte zu der vom Aussterben bedrohten Spezies, die ihr Handy ausstellte, um zu lernen. Unschlüssig blieb Nele auf der Einfahrt stehen. Solarbetriebene Minileuchten erhellten den Weg. Sie steckten, exakt ausgerichtet, zwischen den gepflegten Rosenbeeten.
Ziemlich kitschig, wie Nele fand, aber noch gar nichts gegen die protzige Weihnachtsbeleuchtung, die Sarahs Eltern alle Jahre wieder an das Stromnetz anschlossen. Familie Müller gehörte zu den Spießern und sie schämten sich nicht dafür.
Neles Füße brachten sie um. Die Absätze der Stiefeletten waren doch zu hoch. Zurück konnte sie mit diesen Dingern jedenfalls nicht mehr laufen. Aber das ging sowieso nicht. Er stand sicher noch da und wartete. Würde er überhaupt wieder gehen? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie musste mit jemandem sprechen, bevor sie durchdrehte. Trotz der späten Stunde klingelte sie.
Frau Müller, die immer noch die gleiche Föhnfrisur wie in den Achtzigern trug, sah sie abweisend an.
»Kann ich kurz zu Sarah?«, fragte Nele und schenkte ihr ein braves Lächeln.
Den Blick irritiert auf die Freundin ihrer Tochter gerichtet überlegte sie offensichtlich, ob sie solche Sitten einreißen lassen wollte.
»Sie ist in ihrem Zimmer, aber macht nicht so lang. Sarah schreibt morgen eine Matheklausur.«
»Geht klar!« Sie zog schnell ihre Stiefeletten aus. Die Klausur musste sie auch schreiben. Zum Lernen blieb keine Zeit mehr. Aber das war jetzt egal. Sie hatte andere Sorgen.
»Hattest du gar keine Jacke mit, Nele?«, fragte Frau Müller. »Es ist doch schon ganz schön kalt.«
»Nee, mir war warm.« Der peniblen Hausfrau zu erklären, sie hätte auf der Flucht vor einem Alien ihre Jacke liegen gelassen, war sicher zu viel des Guten.
Sarah brütete an ihrem rosa Schreibtisch über einer mathematischen Kurve. Nele zuckte zusammen, wie immer, wenn sie das Reich ihrer Freundin betrat. Ein Traum in Pink. Jedes Mal brauchte sie einen Moment, um den Schmerz zu überwinden, wenn ihr die Farbe in die Augen sprang.
In dem Glauben ihrer einzigen Tochter einen Wunschtraum zu erfüllen, hatten ihre Eltern das Zimmer in ein pinkweißes Plastikreich umgewandelt. Sarah freute sich pflichtschuldig über die knallige Veränderung. Selbst jetzt, zwei Jahre später, behielt sie lieber für sich, wie sehr sie die künstliche Barbie-Welt erdrückte.
Sarah sah auf. »Liest du Gedanken?«, fragte sie und strahlte Nele an. »Mensch, dich kann ich gerade echt gebrauchen. Die Logik von dem Mist will mir einfach nicht in den Kopf. Ich bin völlig am Ende.«
»Das bist du immer vor Klausuren und morgen geht’s dann doch irgendwie. Aber vergiss Mathe, ich bin wegen was anderem hier.«
Sarah war dick, hatte strähniges braunes Haar und trug noch mit siebzehn die braven Anziehsachen, die ihre Mutter für sie aussuchte.
Sarah schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeit für was anderes. Ich verhaue das sonst voll.«
»Pass auf, Sarah, Mathe ist echt mein kleinstes Problem. Ich muss dir jetzt was verraten, aber erkläre mich bitte nicht für verrückt.« Nele setzte sich auf die pinkfarbene Tagesdecke und lehnte sich an die weißen Plüschkissen, die Frau Müller jeden Morgen sorgfältig aufbaute.
Ohne auf Sarahs Gemütszustand Rücksicht zu nehmen und ihre immer größer werdenden Augen ignorierend, erzählte Nele ihre Geschichte. So knapp und bündig sie nur konnte.
Am Ende raufte sich Sarah die Haare, als wüsste sie nicht, wie sie Neles Redefluss beenden sollte, ohne unhöflich zu sein.
»Glaube mir, es ist die Wahrheit!«, versuchte Nele, ihre Worte zu untermauern. Doch selbst für ihre Ohren klang es unglaubwürdig.
»Hörst du dir eigentlich zu?« Sarah zog eine Schnute, als hätte sie ein Kilo Zitronen gegessen.
»Bitte, es ist die Wahrheit.«
Langsam schüttelte Sarah den Kopf und schien nicht allzu weit davon entfernt, zum Telefon zu greifen, um ihre Freundin in die Psychiatrie einzuweisen.
»Wenn ich zusammenfassen darf, die Wahrheit lautet also: Du bist die Prinzessin von ein paar Planeten irgendwo im Weltall.«
»Den Drei Planeten«, bestätigte Nele.
Sarah verdrehte die Augen und fuhr fort. »Eigentlich wärst du Königin, aber da jemand dich geklont hat, ist dieser Klon auf dem Thron. Du magst diese Schwester, da sie ja dafür nichts kann. Dich hat man hier auf der Erde versteckt, weil du zu viel Energie von irgendeiner geheimen Quelle in dir hast und dich irgendwer umbringen wollte. Warum weiß man nicht so wirklich. Und zurzeit ist einer hier. Habe ich es in etwa getroffen?«
»Ja, genau so.« Nele nickte.
»Und will der dich jetzt zurückholen oder umbringen?«
»Zurückholen.«
»Kennst du ihn?«
»Ja.«
Sarah riss die Arme hoch, als hätte sie einen Geistesblitz. »Na, dann schick ihn einfach fort! Bleib lieber hier auf der Erde!«
Offensichtlich glaubte ihr Sarah kein Wort.
»Er lässt sich nicht fortschicken. Ich bin mit ihm verheiratet.«
»Ach!« Sie runzelte die Stirn. »Da, wo du herkommst, heiratet man also wie auf der Erde?«
»So ähnlich, er hat das Gelöbnis zu mir und meiner Familie gesprochen und ich habe es angenommen. Aber am Ende trifft es ›Hochzeit‹ ziemlich genau.«
Die Schultern ihrer Freundin sackten nach unten. Wie von einer schweren Keule getroffen, schloss Sarah die Augen. »Du glaubst das wirklich! Du spinnst! Du bist völlig durchgeknallt! Seltsam warst du schon immer, aber das jetzt ist echt zu viel.« Als sie aufsah, lag Mitleid in ihrem Blick. Die Art Mitleid, die deutlich besagte: Sie dreht durch, es ist also mal wieder so weit.
Nele schloss nun ihrerseits die Augen. Hatte sie nicht genau damit gerechnet? Sarah kannte ihre Krankengeschichte. Horst ließ schließlich keine Gelegenheit aus, um über sein Lebenswerk zu berichten. Sie ertrug ihr Bedauern nicht.
»Malte hat mich eingeladen«, sagte sie, um abzulenken.
»Der Malte?« Sarah straffte ihre Gestalt.
Die Nachricht barg offensichtlich in etwa die gleiche Sprengkraft wie ihre Wahnvorstellungen.
»Ja, der Malte. Zu Jans Führerscheinfeier, übermorgen.«
»Wow, jetzt weiß ich auch, warum du so durchdrehst. Gehst du hin?« Aufgeregt verließ Sarah den Platz vor ihrem Schreibtisch und setzte sich im Schneidersitz zu ihr aufs Bett.
»Wenn ich noch hier bin, dann gehe ich hin.«
»Wieso solltest du nicht mehr hier sein?«
»Hallo!? Hörst du mir überhaupt zu? Er wird mich mitnehmen! Ich kann nichts dagegen tun.«
»Du spinnst total!« Sarahs Augen sprühten vor Begeisterung. Fröhlich plapperte sie los. »Was willst du am Samstag anziehen und …?«

Später am Abend telefonierte Nele mit Horst und bat ihn, sie mit dem Auto abzuholen. Wozu er sofort bereit war. Wie nicht anders zu erwarten, wollte er mehr über den sonderbaren Fremden wissen. Ob sie ein Problem hätte.
Er erinnerte sie an jemanden von früher, antwortete sie wahrheitsgemäß, dann stellte sie auf stur. Horst wusste aus Erfahrung, dass er nichts weiter erreichen würde.
Für Nele war nur eines wichtig: Er war nicht mehr da. Sie konnte erst einmal nach Hause.